Beide Buben begleiten mich in den neuen Glasturm neben dem Bahnhof Linz. Hier befinden sich auf mehreren Stockwerken die karg und spärlich eingerichteten Büros des Oberösterreichischen Finanzamtes. Kühles Licht, vanillegelbe Wände, minimalistisches Mobiliar... alles andere als einladend. An der Wand hängt ein mit Leuchtstift hervorgehobenes Zitat: "Unsere Kunden kommen mit falschen Erwartungen. Hier ist das Finanzamt und nicht der Spa & Wellnessbereich eines Hotels." - Welche Erlebnisse und Begegnungen bewegten wohl diesen Beamten, sich den Spruch zu vergrössern und an der Bürotür aufzuhängen? Der unmotiviert platzierte Alibi-Fikus in der Ecke fristet ein trauriges Dasein. Für Grünzeug-Flüsterer schon lange klar: Pflanzen haben Gefühle und sind stimmungsempfindlich. Und dieses Exemplar leidet ganz offensichtlich.
Max und Cedric werden unruhig. Die eingepackten Bücher sind durchgelesen, die mitgenommenen Farmerriegel bereits verzehrt. Stühle hat es für die zwei in dem winzigen Office keine. Somit turnen sie hinter mir auf dem Boden herum. Ich habe alle Hände voll zu tun, damit die zwei nicht auf dumme Gedanken kommen. Da dringt die Frage nochmals zu mir durch, diesmal etwas ungeduldiger. "Wie möchten Sie gerne bezahlen?"
Wir versuchen gerade den Nova-Bescheid zu erhalten und die dafür nötige Gebühr zu entrichten, welche fällig wird, sobald ein Auto zum ersten Mal in Österreich zugelassen wird. Völlig blauäugig hatten wir mit einigen hundert Euronen gerechnet. Aber der rote Betrag, der nun vor meinen Augen tanzt, ist vierstellig. 3468 Euros und 32 Cents möchte das junge Fräulein gerne einziehen. Am besten gleich, damit wir bald unsere österreichische Autonummer erhalten.
"Darf ich bitte überweisen?" stammle ich und sammle mit zittrigen Fingern meine Unterlagen ein, während sich Cedi an meine Hosen klammert. "Gehen wir endlich, Mama!" Kaugummikauend überreicht die Beamtin - sie kann kaum älter sein als 18 - seelenruhig den Einzahlungsschein. "Wie Sie möchten. Dann dauert es aber deutlich länger, bis Sie die Nummer kriegen." Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie es mir den Teppich unter den Füssen weggezogen hat. Das Mädel jongliert vermutlich noch mit ganz anderen Summen und hat keine Ahnung davon, dass für unsere Nova ein ganzer Monatslohn draufgehen wird.
"Ich sag jetzt nicht, ich habs dir gesagt. Aber ich habs dir gesagt." höre ich meinen Vater im Geiste schon bemerken. Nicht schadenfreudig, beileibe nicht. Aber meine Eltern hatten aus ihrer Ablehnung zum Volvo-Deal nie einen Hehl gemacht. Wären wir jetzt mit dem Saab besser dran? Zweifellos! Hätte er bis hierher durchgehalten? Möglich. Aber meine Kristallkugel liegt noch irgendwo in einer unausgepackten Umzugskiste.
Finanzielle Reserven haben wir keine nennenswerten. Und nicht zum ersten Mal fühle ich mich wie eine der porträtierten Ausgewanderten auf Vox. Naiv und sorglos bis zum Weckruf. Wie die gute Martha, welche sich mit ihrem Gatten Rainer ins Taxi am Flughafen irgendwo in Paraguay setzt, unterwegs zu ihrer übers Internet erstandenen Traumimmobilie (von der beide bisher natürlich nur Bilder gesehen, aber Gutes gehört haben) und fragt: "Du Schatz, watt ham die hier eigentlisch für eine Währung?"
Mit weichen Knien mache ich mich mit den Jungs auf den Heimweg. Michael ist noch in einer Sitzung, ich werde ihn erst später erreichen. Und schlafen werde ich erst wieder, als seine Firma unerwartet Hand zur Lösung reicht: Der dreizehnte Monatslohn wird meinem Mann statt im November nun schon mit dem nächsten Salär überwiesen. Die Tage unseres Schweizer Autokennzeichens sind gezählt.
Seit fünf Wochen sind wir nun hier in Oberösterreich. Das Urlaubsgefühl der ersten Zeit ist definitv gewichen und wir haben Fuss im Linzer Alltag gefasst. Bis auf wenige Kisten ist alles ausgepackt und verstaut, unsere Wohnung ist zu einem Zuhause geworden. Noch fehlt dieses und jenes, wie ein grosses Büchergestell fürs Wohnzimmer oder ein Badezimmer-Schränkchen. Aber es wird.
Für Cedric beginnt der Kindergarten erst am 5. September. Max' Schule öffnet ihre Tore eine Woche später. Zeit genug also, unsere neue Heimat zu erkunden und uns vertraut zu machen.
Ausflug ins Ars Electronica, eine Kunstausstellung in Linz:
Im grossen Einkaufszentrum PlusCity in Pasching, keine 10 Minuten von uns:
An der schönen, nicht ganz so blauen Donau:
Unterwegs mit dem Öffi, wir hangeln uns von Buslinie zu Buslinie. Eine grossartige Methode, um in kurzer Zeit viel von der Stadt zu sehen. Und um mittagsschlafresistente Kinder zu überzeugen...
Im Froschberg-Bad beim Volkshaus, Eintritt frei und NUR für Kinder. Mamas und Papas dürfen höchstens die Füsse nass machen:
Im Zoo Schmiding:
Auf dem Piringerhof, wenige Gehminuten von uns Zuhause. Beeren, Früchte und Gemüse zum Selberpflücken. Weisch, wie fein!
Im Botanischen Garten von Linz:
Sonntagsausflug nach Steyr:
Sonntagsausflug nach Freistadt:
Schliesslich die Offenbarung: Familienoase Hummelhof! Ein nahegelegenes Freibad, welches mit moderaten Preisen und viiiiel Platz lockt. Eine herrliche Erfrischung in diesen heissen Tagen! Mit gepacktem Picknick-Korb finden wir uns vor dem Mittag ein, plantschen, spielen, lesen (L.E.S.E.N!! Ich vermelde stolz meinen ersten Kniekehlensonnenbrand. Mein letztes in einem Schnurpf durchgelesene Buch ist Jahre her, und ich geniesse jede einzelne Seite.) und freuen uns darauf, dass Papa sich nach Feierabend zu uns gesellen wird.
Und hier holen wir unser Lesefutter: Im Linzer Wissensturm. Auf drei Stockwerken finden wir alles, was das Bücherwurmherz höher schlagen lässt. Die Kinder lasse ich in der Jugendecke schmöckern und spielen und hole mir derweil Nachschub aus Belletristik, Zeitschriften, Hörbüchern und English Books. Fantastisch! Das ganze kostet... erstmal nichts. Und nach den ersten zwölf Monaten 50 Euros jährlich.
Im selben Haus befinden sich die Kursräume der Volkshochschule. Max ist bereits angemeldet zu einem technischen Bastelkurs mit Papa (Raketenbauen für Anfänger), und Michael wird hier im Oktober sein Repertoir an indischen vegetarischen Gerichten erweitern.
Viele meiner Ängste waren unbegründet. Ist es nicht immer so? Was man sich im Kopf ausmalt und in langen, wachen Nächten von Mücken zu Elefanten bastelt, entspricht nicht der Realität. Natürlich vermissen wir Freunde, Bekannte, Familie und die Knackerwürstli der Migros. Aber die Zeit der Sorgen und des Kummerns liegt hinter mir. Den Entscheid über das Auswandern oder nicht zu fällen, DAS war unfassbar schwierig. Den Reset-Button zu drücken hat unbeschreiblichen Mut gekostet. Und siehe da: Uns geht es hier gut. Nun freuen wir uns auf den Beginn des Schuljahres unserer Buben, auf die neuen Freunde und Kontakte, aber auch auf die Freiheiten, die ich damit zurückerlangen werde.
Zurück bleibt ein Gefühl von Stärke. Das Abenteuer Linz hat uns zusammen geschweisst und einander näher gebracht. Wer so etwas schafft, den haut so schnell nichts um!
5 Wochen und zwei Tage - ich vermisse:
#5 meine Arbeit (nur es bitzeli, und eigentlich auch nur wenn die Kinder sürmeln oder Ende Monat kein Gehalt eintrifft...)
#4 die Treppenhausgespräche mit meinen früheren Nachbarn
#3 Swisscom TV (Pausefunktion! Aufnehmen! KiKa ohne Bildstörung!)
#2 BBC1 (Great British Bake Off 2016 - und wir sind nicht dabei, heul!)
#1 Familie und Freunde
5 Wochen und zwei Tage - Dinge, die ich jetzt schon nicht mehr hergeben möchte:
#5 Schlendern über den Südbahnhofmarkt
#4 meine neuen Nachbarn
#3 den Effekt, den wir in der Öffentlichkeit mit unserem Berndeutsch erzielen (Jöh!)
#2 jeden einzelnen unserer 120 Quadratmeter Wohnfläche
#1 Vöslauer Gurke-Holunder
...vielleicht muss ich mich doch einmal schlau machen, wie wir mit unserer Rente dort leben könnten :-)
AntwortenLöschenWow! Der Post hat mich umgehauen, mitreißend und urspannend obwohl ich die Nova Geschichte ja sogar schon kannte. Wir würden euch nimma hergeben :-)
AntwortenLöschenAlles Liebe
Johanna